Rausch

Neuanfang: Wie geht das?

11. Januar 2019
Neuanfang

Ich liebe es, wenn ein neues Jahr beginnt. Ich mag es, wenn etwas frisch und unbenutzt ist. Das ist der Grund, warum ich Buchrücken nicht knicke, wenn ich Bücher lese und schon gar keine Eselsohren hinein mache. Ich finde auch leere Notizbücher wesentlich attraktiver als vollgeschriebene, leere Blätter aufregender als bemalte und leere Wände spannender als zugehängte. Wenn ich also Neuanfang denke, dann sind es leere Flächen und Bereiche, Möglichkeiten, neue Entscheidungen, neue Wege. Wirklich aufregend. Da bin ich wie alle anderen. Denn wenn man jemanden trifft, fragt man: Was gibt es Neues? Nicht etwa: Mit was schlägst du dich eigentlich die letzte Zeit so herum? Die Nachrichten sind nur dafür erfunden worden, um uns von Neuigkeiten zu erzählen. Und Gegenstände, die wir anschaffen, sind allein deshalb schön, weil sie neu sind.

Wenn ich Neuanfang höre, dann klopft mein Herz und ich denke: Ja, das will ich!

Neu // erneuert

Aber, nun – wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, dann hat man eine Menge Neuanfänge schon hinter sich. Schon etliche neue Wohnungen bezogen, neue Jobs begonnen, neue Start-Ups gegründet, eine neue Familie gegründet, ein neues Haus bezogen, ein neues Auto gekauft, eine neue Einrichtung. Irgendwann gibt es kaum mehr etwas zu erneuern, denn wenn man gut eingekauft hat und alles sorgfältig ausgewählt hat, dann hält es (hoffentlich) eine Weile.

Meine Eltern haben in den 60ern eine dänische Teakholz-Sitzgruppe gekauft, die damals teuer und angesagt war. Modern. Und heute ist diese Sitzgruppe so alt, dass sie schon wieder im Trend liegt. Midcentury-Style heißt das jetzt und wird von Hipstern für ihre neuen Wohnungen gekauft. Alle Gebrauchsspuren, die diese Sitzgruppe hat – die fleckigen Polster der Stühle, der nicht ganz sachgemäß geflickte Standfuß des Tisches, die abgebrochenen Stützstreben eines Stuhles – mindern den Wert. Denn – der Hipster will nicht alt, sondern erneuert. Und wenn es alt ist, soll man das bitte nicht sehen. Na klar.

Erneut

Letztens erzählten mir Freunde, dass in ihrer Umgebung immer mehr Ehen kaputt gehen. Hochzeit gehört zu einem der aufregendsten Ereignisse eines Lebens, positiver Stress, aber nach einer Weile wird es eine alte Ehe und dann auch irgendwie etwas, was nicht mehr so sexy ist – egal wie gut die Beziehung ist. Neu ist sexy, alt ist … unsexy. Sie erzählten auch, dass es für Männer aus diesen Ehen dann oft einen Neuanfang gibt: Die jüngere Frau! Für die alles neu ist, mit ihr kann man alles wieder wie neu erleben. Manche Männer (oder auch Frauen) machen das mehrmals in ihrem Leben. Erneut. Ich habe mich neu verliebt! Klingt auf jeden Fall attraktiver als: Ich bin seit 30 Jahren verheiratet. 

Obwohl es eigentlich wesentlich sexier sein sollte, es geschafft zu haben, 30 Jahre zusammenzubleiben, ist es aufregender, nach 30 Jahren wieder von vorne anzufangen. Mit Hochzeit und Baby und … all den Träumen, die man damals hatte, dass alles immer neu und aufregend bleibt. Ich verstehe diese Männer und Frauen und gleichzeitig depremiert mich die Sache: Das ist doch keine Lösung, oder?

Und wenn es nur ein Anfang ist, aber kein Ende hat?

Ich liebe Realityshows, Netflix kriegt mich damit fast immer. Marie Kondo hat ein Buch über Magic Cleaning geschrieben, Räume auf mit der Kondo-Methode und das Großartigste daran ist, wie ich finde, dass es eigentlich nur banales Aufräumen ist. Man fängt irgendwo an und hört erst auf, wenn man alles mal in die Hand genommen hat und weg- oder wieder eingeräumt hat. Das, was man auch Frühjahrsputz nennt und spätestens dann machen muss, wenn man umzieht oder in ein anderes Land geht oder die Kinder ausziehen oder ein anderer großer Wandel in der Lebensführung ansteht.

Marie Kondos Aufräumen kann man jetzt nicht nur in einem Buch lesen, sondern auch in einer Netflix-Serie sehen. Sehen wie Menschen, Paare, Familien eine lange Zeit versucht haben, zu übersehen, dass sie in Dingen ersticken.

Wie konnte das passieren?

Meist wollen diese Familien und Paare aufräumen, das Alte, das ihnen buchstäblich über den Kopf gewachsen ist, aufsortieren, um Platz für – genau – Neues zu schaffen. Meist, weil in deren Leben etwas Neues passiert oder ansteht, die Geburt eines Kindes oder eine andere neue Lebensphase. Und da hofft man dann auf die kleine Japanerin und ihre geniale Methode.

Kleiderburger

Als erstes werden alle Kleider der Bewohner auf einen Berg geworfen und jedes Teil genau betrachtet. Macht es mir (noch) Freude? Auf diesen Bergen liegen nicht selten Kleider, die noch ein Preisschild haben. Nie getragen wurden. Offenbar sehr aufregend waren, bei der Vorstellung, dass man sie irgendwann tragen wird, aber dann von ihrem Flair verloren haben. Nun schaut man sie verdutzt an: Wo kommst du denn her? Was wollte ich mit dir noch mal machen? 

Dann kommen die Bücher dran. Das will ich unbedingt noch lesen! (Habe aber die letzten 10 Jahre keine Zeit dafür gehabt). Kann man Bücher einfach so wegwerfen?

Das Wegwerfen und Aussortieren ist immer ein hochemotionaler Prozess, denn auf einmal ist man mit der 160 Paar umfassenden Turnschuhsammlung konfrontiert und muss sich fragen: Wozu habe ich die noch einmal gesammelt? Was war der Plan bei diesem damaligen AnfangWo sollte das hinführen? Wieso habe ich mich dafür verschuldet? Menschen hängen an den alten Dingen, weil sie ein Versprechen für einen Neuanfang sind. Waren. Eine Hoffnung. Und das sollen ich jetzt gehen lassen? Die fünfzig Kleider, die ich alle noch tragen könnte (nur wann?)

Das Problem mit dem Anfangen

Schriftsteller nennen es Schreibblockade, das weiße Blatt//der weiße Bildschirm. Etwas starrt einen vorwurfsvoll an und verlangt nach einem – Neuanfang. Das leere Notizbuch, dessen leere Seiten so langsam vergilben, die weiße Wand, die man immer schon mal bunt streichen wollte, die leere Leinwand, auf der ein Bild entstehen soll. Es ist alles so wundervoll, wenn man es sich vorstellt, wenn man im Davor ist und so schmerzhaft, wenn man dann tatsächlich anfängt. Denn der Neuanfang ist nur so grandios, wenn man noch nicht angefangen hat. Aller Anfang ist schwer. Das sagen wir und meinen nicht den Moment vor dem Anfang, sondern den Moment, wo wir den ersten Schritt getan haben:

Der erste (immer merkwürdige) Strich auf der Leinwand, der erste (seltsame) Satz auf dem weißen Blatt, der erste (einsame) Farbflecks auf der Wand, die unsere Zukunft werden soll. Dann beginnt der Kampf, das Ringen um die gute Form und – egal ob Ehe oder Familie, ob Kunstwerk oder Buch – dieser Kampf ist oft wundervoll, ästhetisch und erfüllend, aber genauso oft schmerzhaft, schmuddelig und frustrierend. Neuanfänge sind nur toll, wenn wir noch nicht angefangen haben.

Neuanfang ist nur ein gedankliches Konzept. Nichts Praktisches. Ihr merkt schon, ich bin hier sehr pingelig, aber mich beschäftigt das schon eine Weile: Wieso lieben wir diese Vorstellung von einem Neuanfang – in ein neues Land zu ziehen, eine neue Ehe zu schließen, ein neues Buch, ein neues Kunstwerk zu beginnen, einen neuen Job zu entdecken – und können so wenig mit dem umgehen, was nach dem Neuanfang kommt. Der Routine, dem Alltag, den Wiederholungen, den Auseinandersetzungen, dem Prozess? Warum hassen wir nach einer Weile all das, was sich über die Zeit angesammelt hat? Alt geworden ist. Wieso wird es überhaupt alt? Wie kann ein ungetragenes Kleid mit einem Preisschild alt werden?

Neuaufladen

Ich bin gerade viel mit Neuanfängen beschäftigt. Oder eher dem erneuten Aufladen von Dingen, der Wohnung, der Website – dem Leben. Eine Art Inventur des Lebens, des Berufs, der Wohnung. Wenn man jeden Morgen an einen Arbeistsplatz geht, den man am Abend wieder verlässt, fragt man sich das vermutlich nicht so oft, aber für FreiberuflicherInnen ist es eine ständige Frage: Woran arbeite ich gerade? Macht das Sinn? Brauche ich dafür dies/das/und den anderen Kram überhaupt noch?  

Ich habe halbvollendete Kunstwerke und Zeichnungen und sehr viel Material aus dem mal etwas werden  – könnte. Papier und Farbe. Was gehört davon weg? Was kann und muss ich aufgeben, um Platz für all das Neue in meinem Leben zu schaffen?

Dinge wegzuschmeißen ist eine Sache, aber wie ist es mit Ideen? Ich habe mehrere Exposés und unverfilmte Drehbücher auf Disketten (ja, sehr witzig …) und hebe leicht hysterisch ein Diskettenlaufwerk auf, damit ich diese Ideen irgendwann einmal wieder freilassen kann. Doch – ganz ehrlich – vermutlich werde ich sie irgendwann wie das Kleid mit dem Preisschild betrachten: Verstört, verwirrt, beschämt. Nein, die alten Ideen waren damals grandios, aber heute? Genau.

Und wie ist es mit den Websites und Blogs, die ich führe? Wie ist es mit diesem Blog? 6 Plugins, die erneuert werden müssen. Und ja, dann ist da noch Gutenberg. Der neue Editor von WordPress.

Mit dem Gutenberg-Editor bricht eine neue Ära in der Geschichte von WordPress an.

Heißt es auf den Blogs, die einem dabei helfen wollen, den neuen Editor zu bedienen. Unser Webexperte hat uns empfohlen, ein Plugin zu aktivieren, das darauf achtet, dass das eben nicht passiert und dafür sorgt, dass der Classic Editor weiter gut funktioniert. Er traut dem Neuanfang nicht. Ich finde das alles großartig, Gutenberg soll kommen, aber wann habe ich die Zeit, das HowTo-Video anzusehen oder mich mit den Pros und Cons dieses Editors zu beschäftigen? Irgendwann mal.

Und mein Blog? Der meine neue Website werden soll? Jedesmal, wenn ich mich damit beschäftige, frage ich mich: Ist das jetzt wirklich ein Neuanfang? Oder hänge ich noch in ganz alten, längst veralteten Vorstellungen von einem Blog, meinem Blog, einem Autorenblog? Was wird Bestand haben und nicht nur eine kurzfristige Werbefläche mit ein paar Pressequotes und Links zu meinen Büchern sein? Denn ich will etwas erschaffen, das noch in vielen Jahren classy ist.

Vergiss es, sagt etwas in mir, denn die Dinge, alle Dinge, alles, halten immer weniger lange. Also entweder stellst du dich gleich darauf ein, ständig neu anzufangen oder du gibst auf. Lässt dich unter den Dingen begraben, bis du nach Hilfe rufst, nach Marie Kondo oder einem Entrümpelungsunternehmen.

Transformation

Ein paar Monate bevor mein Vater starb, habe ich ihm beim Entrümpeln seines kleinen Appartement geholfen, da er ein neues Bett bekam. Ich habe ihm Ordner mit alten Akten vorgelegt und gesagt: Schau das mal durch, ob du das noch behalten willst? Bei der Gelegenheit habe ich altes Geschirr und Kleidung meiner Mutter entsorgt, die seit 3 Jahren tot ist. Ich habe Dinge weggeworfen, von dessen Exitenz er sicher nichts wusste. Gemeinsam haben wir eine seiner Schreibtischschubladen aufgezogen und die verrosteten Büroklammern betrachtet, die sich dort ängstlich in einem Minifach zusammendrängten. Verrostete Büroklammern, die schon so verrostet waren, dass das ganze Fach voll mit rotem Roststaub war. Und die Schublade wieder geschlossen. Man kann nicht immer wieder neu anfangen. Jedenfalls nicht auf dieser Erde. Manchmal muss man akzeptieren, dass ein Neuanfang zumindest jenseits von dem bereits gelebten Leben, auf einer neuen Ebene in einem anderen Space und Mindset stattfinden wird.

Und das ist vielleicht das Aufregenste und Schwerste am Neuanfang. Nicht nur etwas neu zu beginnen oder erneut zu tun oder zu erneuern, sondern es zu transformieren. Aus dem alten (Leben) ein neues zu machen. Sich von bestimmten Dingen zu trennen, um sein Leben mit neuer Energie aufzuladen. Dinge nur zu behalten, um sie wiederzubeleben. Das ist nicht Aufheben oder Festhalten, sondern Umwandeln. Transformieren.

In diesem Sinne – freue ich mich dieses Jahr auf einen ganz besonderen Neuanfang.

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