Ausdauer und Film. Fällt einem da nicht sofort »Marathon Man« ein? Ja, aber, obwohl Dustin Hoffman ein paarmal um das Reservoir im Central Park rennt, geht es in dem Film nicht mehr um Ausdauer als in fast allen Filmen der Welt. Muss nicht der Held immer wieder Ausdauer beweisen, nachdem er endlich aufhört, sich zu weigern, seine altvertraute Welt zu verlassen, und sich schließlich auf die Reise, die Reise des Helden macht?
Und wie Katrin im Focus-Beitrag schon sehr schön dargelegt hat, macht Ausdauer ohne ein Ziel keinen Sinn. Wenn der Held endlich akzeptiert, dass der Ring ins Feuer oder eine senkrechte Felswand unbedingt »free solo« erklimmt werden muss, kann er auch die nötige Ausdauer aufbringen.
Aber nicht nur der Held auf der Leinwand braucht Ausdauer. Bis es ein Film von der ersten Idee auf die Leinwand schafft, ist auch viel Ausdauer nötig. Und nicht zuletzt brauchen oft die Zuschauer Ausdauer. Netflix-Binchwatch-Serien verlangen genauso Durchhaltevermögen, wie dreieinhalbstündige Blockbuster oder sechsstündige Oscar-Verleihungen.
Der Blick des Odysseus — erster Abend
Der Film, den ich persönlich am meisten mit dem Begriff Ausdauer in Verbindung bringe, ist »Der Blick des Odysseus« von Theo Angelopoulos. Ich habe den Film, der zu meinen all time favourites gehört, nach seinem Erscheinen 1995 im Bali Kino Zehlendorf gesehen. Am ersten Abend hat er mich so beeindruckt, dass ich ihn mir an den nächsten beiden Abenden noch einmal angeschaut habe. Bei allen drei Vorstellungen waren außer mit nur noch zwei/drei andere Zuschauer im Kino, von denen am zweiten Tag auch noch zwei das Kino vorzeitig verlassen haben. Keine Ausdauer?
Nun der Film ist ziemlich genau drei Stunden lang, was dem Zuschauer schon eine gewisse Ausdauer abverlangt, zumal er sich nicht gerade durch einen abwechslungsreichen Plot und überraschende Plottwists auszeichnet. Ein Mann, Filmemacher, kommt aus dem Exil nach Hause, ist da immer noch nicht gut gelitten. Das interessiert ihn allerdings kaum, weil er auf der Suche ist. Wonach? Natürlich nach allem. Nach ein paar alten Filmrollen, seiner Vergangenheit, seiner Heimat, seiner Seele. Um es nicht zu spannend werden zu lassen, wird zum Beispiel die Frage, die sich der Protagonist den ganzen Film über stellt, für den Zuschauer gleich in den ersten Minuten des Films beantwortet. Darum kann es also nicht gehen.
Was hat mich also so fasziniert?
(ab jetzt Spoileralarm, obwohl man den Film gar nicht mit Worten spoilern kann) Am ersten Abend war ich vollkommen geflashed von den Bildern. Den Bildern und der Musik, den vielen long-shots und den ewiglangen Einstellungen, – einmal wird die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen in einer einzigen Einstellung gezeigt. Dann — die Farben. Gibt es überhaupt Farben? Am Anfang regnet es, schwarze Schirme, unglaubliche, schwarze Schirme, und das Wetter wird in den nächsten drei Stunden auch nicht wirklich besser. Aber doch, es gibt sie, die Farben. Farben wie auf Teerzeichnungen – und ein unvergessliches, unübersehbares Cyanblau. Und dann wieder die Bilder, Bühnenbilder, mehr Ballett als Film. Was sind das für Bilder? Es ist alles so aufgeladen, dass es schon fast weh tut?
So weh wie dieser ganze Krieg, der 50 Jahre nach »Kriegesende« mitten in Europa wütet. Und ein Harvey Keitel, der sich mit unerschütterlicher, gelassener Ausdauer auf eine lange Reise durch den zerrütteten, winterlichen Balkan macht, bis er im zerstörten Sarajevo landet, wo 80 Jahre vorher der erste Weltkrieg mit der Ermordung Franz Ferdinands begonnen hat.
Das alles hat schon gereicht für einen Abend.
Aber es geht nicht um den Krieg. Es geht ums Filmemachen, um den Blick durch die Kamera, um Kino. Oder geht es um einen Mann auf einer Reise in seine Vergangenheit, zu sich selbst, nachdem er jahrelang im Exil gelebt hat? Oder geht es wirklich um die Odyssee?
A., so wird der Filmemacher genannt, (was ich nicht bemerkt hatte) begegnet auf seiner Reise immer wieder verschiedenen, oft etwas seltsamen Frauen. Wie Odysseus auf seiner Irrfahrt nach Hause. Sie werden alle von der gleichen Schauspielerin gespielt. (Was ich tatsächlich auch erst beim-dritten-Mal-sehen bemerkt habe) Facetten einer einzigen Figur? Gibt es Parallelen zu Penelope, Calypso, Circe und Nausicaa? Vermutlich.
Es gibt sehr viele Ebenen, die vielleicht zu entschlüsseln sind. Für mich wäre es aber so, als würde man ein Konzeptalbum oder eine Symphonie, ein Kunstwerk entziffern, interpretieren, entschlüsseln wollen, statt es wirken zu lassen. Für mich ist der Film, der ja auch von einer großartigen Musik getragen wird, wie ein Musikstück, ein Ballett. Bilder und Musik! Es geht nicht um das Verstehen und Erkennen von Zusammenhängen mit dem diskursiven Verstand. Meiner Meinung nach wird die kontemplative Ausdauer mit intuitivem Erlebnis belohnt.
Der Film setzt großes Vertrauen in die Ausdauer des Zuschauers. Man kann ihn sehen, wie man Musik hört, in der richtigen Stimmung, mit Kopfhörern. Mehrmals.
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